KREUZBERG, DAS ZEITUNGSVIERTEL
UND SEINE GEWERKSCHAFTEN:
Paula Thiede und Kolleg*innen

Ende des 19. Jahrhunderts entstand auf einem etwa einen Quadratkilometer großen Gebiet, begrenzt von der Leipziger Str., dem Landwehrkanal, der Wilhelmstr. und der Lindenstr., das weltbekannte Kreuzberger Zeitungsviertel. Dies geschah im Rahmen der Industrialisierung der Druckbranche. In direkter Nähe befanden sich bedeutende Institutionen der Arbeiter*innenbewegung, darunter ab 1902 die Parteizentrale der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD).

Das Zeitungs- viertel beeinflusste das Leben von Paula Thiede, die anfangs als Hilfsarbeiterin im Druckgewerbe arbeitete und später die erste Frau weltweit wurde, die eine Gewerkschaft leitete. Auch das Leben des Druckers und Schriftstellers Ernst Preczang war eng mit diesem Viertel verbunden. Er arbeitete zeitweise als Redakteur für die „Solidarität“, die Zeitung von Paula Thiedes Gewerkschaft.


Paula Thiedes Lebensgeschichte ist nicht nur eng mit dem Zeitungsviertel verknüpft, sondern auch mit dem Aufstieg der Arbeiter*innenbewegung, der beginnenden Frauenemanzipation und der Geschichte Berlins im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik.

Die Sammlung Peter Plewka ermöglicht es, die Orte und das Leben von Menschen wie Paula Thiede oder Ernst Preczang nachzuvollziehen, deren Alltag oft kaum in historischen Quellen dokumentiert ist.

Mehr als nur Zeitungen:
Politik, Geschäfte und Leben
im Zeitungsviertel

Im Zeitungsviertel siedelten sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Verlage aller Größen an. Die bekanntesten waren Scherl, Ullstein und Mosse. Auch der sozialdemokratische Vorwärts-Verlag hatte in der Lindenstr. Sitz, Redaktion und Druckerei. Ab den 1920er Jahren war der kommunistische „Neue Deutsche Verlag“ von Willi Münzenberg in der Friedrichstr. ansässig.
Rund 500 Betriebe der Druckereibranche existierten auf dem kleinen Areal – von Druckereien, Setzereien und Buchbindereien über unzählige Redaktionen bis hin zu Anzeigen- und Vertriebsbüros. Zeitungen wurden druckfrisch an Kiosken und von Straßenverkäufer*innen angeboten und ihnen bei Sensationen regelrecht aus den Händen gerissen.
Das Viertel pulsierte. Neben den Verlagen gab es auch zahlreiche Läden anderer Branchen sowie Vergnügungsorte wie Theater, berühmte Cafés, Hotels und später auch Kinos. Auf den Ansichtskarten meist unsichtbar und doch immer da: Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen wie Paula Thiede.

In der Zimmerstr. 36–41 befand sich der Verlag Scherl, der unter anderem den auflagenstarken „Berliner Lokal-Anzeiger“ herausgab. Gleich nebenan wurde die „Berliner Morgenpost“, das Konkurrenzblatt aus dem Verlagshaus Ullstein, verkauft. Während der Scherl-Verlag eine deutschnationale Linie verfolgte, hatte der Ullstein-Verlag zunächst eine eher liberale Agenda. Aufgrund der Personalpolitik arbeiteten im Verlag fast ausnahmslos jüdische Universitätsabsolvent*innen. Ab 1934 wurde der Ullstein-Verlag „arisiert“ und an die nationalsozialistische Ideologie angepasst.

Viele der Beschäftigten im Druckereiwesen wohnten im direkten Umfeld des Zeitungsviertels. Paula Thiede, geboren in der Wilhelmstr. 20, zog in ihrer Jugend in die Friedrichstr. 250, später ans Waterloo-Ufer 4, dann im Kreuzberger Graefekiez in die Urbanstr. 36 sowie die Dieffenbachstr. 31. Im Graefekiez gab es engmaschige politische Netzwerke von Aktiven der Druckerei-Gewerkschaften. Leben und Arbeiten lagen nahe beieinander, auch wenn die Arbeitsstellen insbesondere der konfliktbereiten Kolleg*innen schnell wechseln konnten.

Der Verdienst im Druckereigewerbe war höher als in vielen Berufen. Doch die Unternehmer ignorierten die gesundheitlichen Risiken der Arbeiter*innen. Chemikalien, Giftstoffe und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen führten oft zu Unfällen, Krankheiten und frühem Tod – mehr als die Hälfte der Buchdrucker*innen erreichte nicht das 40. Lebensjahr. Diese Zustände finden keinen unmittelbaren Ausdruck auf den Ansichtskarten, spiegeln sich aber in der Sammlung Peter Plewka wider: Das Urban-Krankenhaus, wo 1891 Paula Thiedes erster Ehemann, der Buchdrucker Rudolf Fehlberg, mit 30 Jahren als einer von vielen verstarb, lag nahe dem Zeitungsviertel und den Wohnorten vieler Beschäftigter.

Druck von unten:
Gewerkschaften im Zeitungsviertel

Die Verzweiflung über Ungerechtigkeiten und Elend der Arbeiter*innen motivierte Paula Thiede und viele arbeitende Frauen dazu, die eigene Lebenslage zu verbessern. Nach dem Wegfall des Sozialistengesetzes 1890 gründeten sie neue Interessensverbände.
Eine dieser Gewerkschaften war der „Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen“. Ende 1891 trat Paula Thiede bei – mitten in einem laufenden Arbeitskampf der Buchdrucker*innen für den 9-Stunden-Tag. Es war der größte Streik, den das Kaiserreich bislang gesehen hatte: Im November 1891 standen 12 000 Buchdrucker im Streik – und mit ihnen Tausende Buchdruckereihilfsarbeiter*innen.
1898 vereinigten sich die Vereine der Hilfsarbeiter*innen im Druckgewerbe zu einer reichsweiten Gewerkschaft, die zunächst „Verband der in Buchdruckereien und verwandten Gewerben beschäftigten Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen“ hieß; Paula Thiede wurde die Vorsitzende.
1926 errichtete die ältere und größere Organisation der ausschließlich männlichen Buchdrucker einen neuen Hauptsitz in der Dudenstr. 10. Dort lagen auch der Sitz und die Druckerei der Büchergilde Gutenberg unter der Leitung von Ernst Preczang, der früher in der Reichsdruckerei gearbeitet hatte und als „Vereinsdichter“ für Paula Thiedes Gewerkschaft bekannt war.

Im Jahr 1924 erbaut und 1926 fertiggestellt, beherbergte das „Buchdrucker-Verbandshaus in Berlin“ in der Dreibundstr. 5, der heutigen Dudenstr. 10, zahlreiche Büros, Wohnungen, Veranstaltungs- und Ausstellungsräume sowie eine komplette Druckerei im Hinterhaus. Dort verantwortete Ernst Preczang als ihr „literarischer Leiter“ ab 1926 den Druck der Bände der Büchergilde Gutenberg – darunter auch die Erstausgabe von „Das Totenschiff“, die B. Traven 1926 zu Weltruhm verhalf. Wie zahlreiche Gewerkschaftshäuser wurde auch das „Haus der Buchdrucker“ am 2. Mai 1933 von der SA besetzt.

Die Reichsdruckerei am westlichen Ende der Oranienstr. war die größte aller Berliner Druckereien. 1886 wurden nach einem wilden Streik 40 Hilfsarbeiter entlassen – ein Ereignis, das als Initialzündung für ihre gewerkschaftliche Organisierung gilt, die 1898 zur Gründung der Gewerkschaft von Paula Thiede führte. In den Jahren 1890–1895 verdiente auch Ernst Preczang in der Reichsdruckerei seinen Lebensunterhalt.

Autor*in

Jana König
Sonja Lindhauer