Die kolonialen Bestrebungen des Deutschen Reichs Ende des 19. Jahrhunderts zielten darauf ab, nationales Prestige zu gewinnen und wirtschaftliche Geltung gegenüber anderen Imperialmächten zu demonstrieren. Obwohl die Importe aus den von Deutschland besetzten Gebieten in Afrika, China und im Pazifik wirtschaftlich relativ unbedeutend waren, gewann der Kolonialismus ab 1900 zunehmend an Einfluss auf die Gesamtwirtschaft des Kaiserreichs. Auch in Kreuzberg tauchten koloniale Güter in der Industrie als Rohstoffe und im Einzelhandel als Waren auf.
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich seinen Status als Kolonialmacht und musste 1919 die Kolonien an die Siegermächte abgeben. Die kolonialen Herrschafts- und Handelsstrukturen endeten damit aber nicht. Ein alltägliches Beispiel dafür ist der fortlaufende Verkauf von Waren kolonialen Ursprungs, auch in Kreuzberg.
Die Sammlung der Ansichtskarten von Peter Plewka beginnt um 1890. Sie zeigt die koloniale Herrschaft mehr oder weniger direkt mitten im städtischen Alltagsleben dieser Zeit. Auf vielen Ansichtskarten tragen Ladenfronten den Schriftzug „Kolonialwaren“, oft posieren daneben Ladeninhaber*innen oder Verkäufer*innen. Zu den Orten, an denen die Verwaltung von Kolonialgüterimporten ansässig war, finden sich zwar Bildkarten, aber sie sind nicht direkt auf den Motiven zu erkennen. Koloniale Imaginationen mit exotisierenden Bildern, rassistischen Darstellungen und rassistischer Sprache sind dagegen in einigen Motiven sehr klar sichtbar.
In Kreuzberg waren Produkte aus kolonialen Gebieten wie Kaffee, Zucker, Tee, Reis, Gewürze, Tabak und Schokolade im Einzelhandel um 1900 weit verbreitet. Zeitgleich mit dem beginnenden Import von Kolonialwaren wuchs der Einzelhandel in Kreuzberg. Dies hing auch mit der sich verändernden Sozialstruktur zusammen: Mit der Industrialisierung wanderten ab 1870 massenhaft Menschen vom Land und von fern in die Städte und so auch nach Kreuzberg ein. Statt sich wie bisher über eigene Produktion und Tausch mit Lebensmitteln zu versorgen, waren die zugewanderten Arbeiter*innen nun auf den Einkauf im lokalen Einzelhandel angewiesen. In den Kramerläden wurden Kolonialwaren neben Alltagsgütern angeboten, oft auf Kredit, wodurch diese Produkte auch proletarischen Milieus zugänglich waren. Die Geschäfte wurden häufig von Arbeiterfrauen betrieben, die durch den Verkauf ihre niedrigen Löhne aufbesserten.
Trotz ihrer alltäglichen Verfügbarkeit galten Kolonialwaren als Luxus, obwohl sie oft zoll- und steuerbegünstigt waren. Der breite Verkauf dieser Waren zeigt, dass der Massenkonsum auch im einkommensschwachen Kreuzberg Einzug hielt.
In der Sammlung Peter Plewka finden sich Ansichtskarten von Kolonialwarenläden, die über ganz Kreuzberg verteilt waren. Vor einigen posieren Angestellte oder Inhaber*innen, wie auch bei vielen anderen Betrieben unabhängig des Warenangebots. An den Tafeln lässt sich erkennen, dass Kolonialwaren neben alltäglichen Bedarfsprodukten wie etwa Mehl, Wurst und Kartoffeln angeboten wurden.
Ab den 1880er Jahren wurden Produkte wie Kaffee, Zucker, Tee, Reis, Gewürze, Tabak und Schokolade im Zuge des deutschen und globalen Kolonialismus nach Deutschland importiert. In der Mittenwalder Str. 12 gründeten 1898 über 20 lokale Kolonialwaren-, Delikatessen- und Lebensmittelhändler*innen eine Einkaufsgenossenschaft, um gemeinsam bessere Preise für Kolonialwaren zu erzielen. Sie nannten sich „Einkaufsgenossenschaft der Colonialwarenhändler im Halleschen Thorbezirk“. Die Genossenschaftsidee war erfolgreich und führte zur Gründung ähnlicher Initiativen in Berlin. 1907 entstand daraus ein reichsweiter Unternehmerverband, der den Namen Edeka trug – abgeleitet von der Kreuzberger Gründung in der Mittenwalder Str. Bis heute ist Edeka eine bekannte Supermarktkette.
Kreuzberg war um 1900 ein wichtiger Industriestandort innerhalb Berlins, an dem sich viele Produktionsstätten ansiedelten. Der Import von Rohstoffen aus deutschen Kolonien war zwar eher gering, dennoch wurden in Kreuzberger Fabriken Rohstoffe kolonialen Ursprungs wie etwa Kakao verarbeitet: Die Berliner Firma Sarotti, eins der führenden Unternehmen der Schokoladenindustrie des Reichs, siedelte ihre Fabrikation in den frühen 1880er Jahren in der Belle-Alliance-Str. 81 (heute Mehringdamm 57) an. Der Standort wuchs weiter, 1904 bzw. 1906 kamen noch die Nachbargrundstücke mit den Nummern 82 und 83 hinzu. Als die Fabrik 1910 platzbedingt nach Tempelhof zog, waren hier 1800 Arbeiter*innen beschäftigt, die meisten von ihnen Frauen.
Auch in anderen Fabriken wurden Rohstoffe aus kolonisierten Gebieten verarbeitet, etwa Elfenbein und Silber für modische Gebrauchsgegenstände und in der Schmuck- und Möbelindustrie.
In der Sammlung Peter Plewka gibt es keine Ansichtskarten mit Darstellungen der Firma Sarotti, aber Motive der Belle-Alliance-Str. (heute Mehringdamm), in der Sarotti seine Waren produzierte; diese Motive rücken den städtischen Alltag im damaligen Kreuzberg in den Mittelpunkt.
Um 1900 nahmen kulturelle Darstellungen im Kaiserreich zu, die eine Art Bebilderung der neuen kolonisierten Gebiete in Afrika, China und im Pazifik liefern sollten. Diese Darstellungen trugen dazu bei, den kolonialen Besitz als „werdende Heimaten“ und Teil des imperial-nationalen Kaiserreichs als alltäglich und selbstverständlich zu etablieren. Zeitungsberichte, Reportagen, Abbildungen in Illustrierten, Ansichtskarten, Werbung und die ersten sogenannten „Völkerschauen“ prägten die Vorstellungen und Diskurse um die kolonialen Gebiete, ihre Bewohner*innen und deren Kultur. Die dadurch entstehende Vielzahl an kolonialrassistischen Visualisierungen wurde wiederum in der Kultur und im Unterhaltungsgewerbe kontinuierlich aufgegriffen, inszeniert, popularisiert, variiert und legitimiert.
Diese stetige Wiederholung wird in der Sammlung Peter Plewka vor allem bei Ansichtskarten der Kreuzberger Gastronomie deutlich, deren „exotische“ Inneneinrichtungen und rassistische Benennungen dazu beitrugen, koloniale Herrschaftsverhältnisse im Alltag zu normalisieren und zu reproduzieren.
Zwischen 1900 und 1920 war diese inszenierte „Exotik“ nicht nur in der Gastronomie beliebt, sondern durchdrang viele Bereiche und erreichte so breite Bevölkerungsschichten. Mit „Exotik“ wurden sinnliche Intensität, Ursprünglichkeit, „Heidentum“ und „Primitivität“ assoziiert. Sowohl Menschen als auch Pflanzen, Bräuche und Essen wurden als „exotisch“ inszeniert.
Um 1900 nutzte die Werbeindustrie Motive des „Fremden“ und „Exotischen“ als Blickfang in fast sämtlichen Kontexten. Diese Darstellungen griffen zeitgenössische Klischees und Stereotype des „rassisch Minderwertigen“ auf, indem sie vermeintlich ethnische Merkmale überzeichneten und rassistisch einbetteten.
Solche Bilder zeigten die Kolonisierten oft bei der Arbeit oder bei Festen, meist durch Nacktheit als „primitiv“ und als „unzivilisiert“ inszeniert. Die Bilder trugen zur Betonung der „gelungenen“ Unterwerfung der Kolonisierten durch die Kolonialherren bei. Die Kolonialisierung wurde als vermeintlicher „Segen“ für die Menschen in den Kolonien dargestellt.
Besonders häufig wurden solche kolonialen Bilder in der Werbung für Produkte aus Kolonien eingesetzt, wie Tabak, Seife oder Schokolade. Diese Werbestrategie diente auch dazu, die ausbeuterischen Herstellungsbedingungen dieser Produkte auszublenden bzw. zu überlagern.
Die Dresdner Firma „Hartwig & Vogel“ stellte aus kolonial importiertem Kakao Schokoladen her und war neben Sarotti und Stollwerk eins der führenden Unternehmen der Schokoladenindustrie. Als Werbestrategie verbreitete sie u.a. Sammelkarten mit kolonialer Bildsprache, z.B. von „fröhlichen“ und arbeitenden kolonisierten Menschen, denen deutsche, als überlegen inszenierte Kolonialherren gegenübergestellt sind.
Auch die Berliner Schokoladenfirma Sarotti bewarb ihre Produkte mit rassistischen Klischees, z.B. auf einer Plakatwerbung für Kakao mit dem Bild von zwei nur mit einem Lendenschurz bekleideten schwarzen Männern, die mithilfe eines Stabes eine riesige Bananenstaude auf ihren Schultern tragen. Mit dem Sarotti-M* schuf die Firma 1918 eine der populärsten Figuren in der Geschichte deutscher Werbung, eine Darstellung eines kindlichen, märchenhaft anmutenden Schwarzen in der Position eines Dieners.
In der Sammlung Peter Plewka gibt es zwar keinen direkten Hinweis auf Sarotti-Werbung, aber mehrere Gebäudeschriftzüge deuten auf Geschäfte hin, die Sarotti-Schokolade verkauften. Vermutlich waren an diesen Orten die rassistischen Werbebilder der Firma zu sehen.
Eine Ansichtskarte aus der Sammlung Peter Plewka zeigt eine Menschengruppe vor dem Restaurant Carl Saalmann mit der Beschriftung „Gruss vom Buren-Lokal“. Wie das Restaurant mit den Buren in Verbindung stand, ist unbekannt. Dennoch zeugen die Beschriftung und Betitelung als „Buren-Lokal“ davon, dass sich Kreuzberger*innen zu ihnen affirmativ ins Verhältnis setzten.
Als „Buren“ wurden ab Ende des 18. Jahrhunderts die Nachkommen der seit 1652 in Südafrika eingewanderten niederländischen, deutschen und französischen Siedler*innen bezeichnet. Sie eroberten gewaltsam Gebiete und gründeten sogenannte „Burenrepubliken“, in denen sie die einheimische Bevölkerung ähnlich wie die Kolonialherren ausbeuteten. Zwischen 1898 und 1902 führten die Buren einen Krieg gegen die britische Kolonialmacht, die an den Bodenschätzen in ihren Gebieten interessiert war. Teile der deutschen Presse im Kaiserreich und in Südafrika sowie Vertreter*innen einer „alldeutschen“ Ideologie, die völkisches Denken und eine imperialistische Kolonialpolitik propagierten, unterstützten die Buren – ihr Kampf wurde als hilfreiches Mittel gegen die Ausweitung des britischen Einflusses in Südafrika eingeschätzt. Zudem galten die Buren als „rasseverwandt“ mit den Deutschen, was zu „völkischen Solidarisierungen“ führte. Vermutlich trafen sich Anhänger*innen dieser Positionen im „Buren-Lokal“ in der Graefestr..