Katastrophen gehören zu den Themen, die heute in den Nachrichtenmedien präsent sind und von Nutzer*innen sozialer Medien geteilt werden. Das Internet bietet die Möglichkeit, schockierende Bilder und sogar Live-Übertragungen von verheerenden Ereignissen zu finden. In der heutigen digitalen Welt werden Memes und Social-Media-Posts genutzt, um Ereignisse wie Katastrophen auch auf humorvolle oder kritische Weise zu kommentieren. Ansichtskarten erfüllten Anfang des 20. Jahrhunderts eine ähnliche Funktion wie heutige Medien, nämlich die Darstellung von Geschehnissen durch eine Verbindung von Bild mit Text. Sie hatten nicht nur die Funktion, Ereignisse zu dokumentieren, sondern artikulierten und antizipierten auch Reaktionen der Öffentlichkeit.
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 wurden im Deutschen Kaiserreich mehrere Milliarden Ansichtskarten mit unterschiedlichsten Motiven produziert, verkauft und verschickt. Die Darstellung von Katastrophen auf Ansichtskarten hatte ein mehrfaches Wirkungspotenzial: Sie konnten bei Opfern und ihren Angehörigen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit durch das gemeinsam erlebte Schicksal erzeugen. Zudem konnte die Verbreitung von Katastrophenbildern auf Ansichtskarten eine öffentliche Diskussion über die jeweiligen Ereignisse anregen. Für diejenigen, die über das Ereignis nicht in Zeitungsnachrichten erfuhren, konnte eine Ansichtskarte mit einem entsprechenden Motiv das Geschehen bildlich erlebbar machen. Bilder von Katastrophen zielten aber auch auf das Schockieren und gleichzeitig auf die Sensationslust ihrer Betrachter*innen.
Ansichtskarten spielen eine bedeutsame Rolle für das kollektive Gedächtnis und Identität, da sie Bilder von bestimmten Ereignissen massenhaft verbreiten und dabei scheinbar die Realität dokumentieren. Doch die Motive von Ansichtskarten inszenieren aufgrund ihrer Kompositionen, der ausgewählten Bildausschnitte und durch Bildbearbeitung die Wirklichkeit.
Die Zeit zwischen etwa 1900 und 1920 kann als Blütezeit der Ansichtskarte gesehen werden. Ansichtskarten konnten durch technische Neuerungen günstig hergestellt bzw. verkauft werden und häufige Postzustellungen ermöglichten es, dass Karten innerhalb weniger Tage bzw. innerhalb von Großstädten am selben Tag zugestellt werden konnten. Die hier ausgewählten Ansichtskarten von 1902 und 1908 entstanden in dieser Phase. Auf den Ansichtskarten sind zwei Katastrophen in Berlin abgebildet, eine technische und eine Naturkatastrophe. Dabei wurden die beiden Ereignisse unterschiedlich dargestellt, in einem Fall eher humoristisch, im anderen Fall dokumentierend. Bei dem einen Motiv handelt es sich um das Hochwasser von 1902, und bei dem anderen ist das Hochbahnunglück am Gleisdreieck von 1908 zu sehen.
Die Meteorolog*innen sagten für den 14. April 1902 ruhiges Wetter voraus, dennoch wurde die Reichshauptstadt ab 3 Uhr morgens von Regen, Blitzen und Überschwemmungen geweckt. Weite Teile Berlins standen unter Wasser, auch Kreuzberg war an vielen Stellen betroffen. Im Viktoriapark richtete das Unwetter große Schäden an. In mehreren Stadtteilen standen Keller und Kellerwohnungen unter Wasser. Die Feuerwehr wurde in bisher nicht gekanntem Ausmaß alarmiert, zwischen 5 und 8 Uhr morgens waren bereits alle Löschzüge der Stadt im Einsatz. Sie wurde beispielsweise in die Katzbachstraße 5 gerufen, weil der Einsturz des vierstöckigen Hauses befürchtet wurde. In der Yorckstraße stand das Wasser am Mittag von der Katzbachstraße bis zur Bülowstraße einen Meter hoch. Am Bahnhof Friedrichstraße boten sich Träger*innen gegen ein bescheidenes Trinkgeld an, Fußgänger*innen über die schlimmsten Stellen zu tragen.
Ein Verlag machte aus den Folgen der Flut eine Anekdote; er produzierte eine Ansichtskarte, mit der ein Mann in der Katzbachstraße 5 ungewollt zum Meme seiner Zeit wurde: Laut Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung vom 14. April 1902 musste er aufgrund seines betrunkenen Zustandes von seinen Mitmenschen vor der Überschwemmung seiner Wohnung gerettet werden. Über diese Geschichte wurde in Zeitungen berichtet und sie wurde durch die Ansichtskarte auch zur Karikatur.
Die Ansichtskarte zeigt ein Bild eines schlafenden Mannes in einem überschwemmten Zimmer. Im Türrahmen stehen ein Beamter und zwei Frauen. Mit der Darstellung wird die Szene einer realen Geschichte nachgezeichnet, über die das Berliner Tageblatt berichtete. In der Katzbachstraße 5 wurde ein betrunkener Mann im Bett durch eine Überschwemmung überrascht. Ein Textfeld mit einem Wortspiel „Raum ist in der kleinsten Kammer für den größten Katzenjammer“ trägt zusätzlich zur humorvollen Darstellung der Ansichtskarte bei, indem es auf die Verbindung zwischen dem „Katzenjammer“ und der „Katzbachstraße“ hinweist. Der Reim scheint auch passend, weil „Katzenjammer“ umgangssprachlich für einen Kater steht, also für das Unwohlsein nach übermäßigem Alkoholgenuss. Diese Ansichtskarte illustriert sowohl die Ausmaße der Katastrophe als auch den Versuch, die dramatische Situation durch Humor zu bewältigen.
1902 führte die erste Hoch- und Untergrundbahnlinie Deutschlands über das Gleisdreieck-Gelände in Kreuzberg. Der Name „Gleisdreieck” leitete sich von der Kreuzung dreier U-Bahn-Linien ab. Traurige Berühmtheit erlangte die Hochbahn am 26. September 1908 durch ein schweres Unglück.
Um 13:42 Uhr fuhr ein Zug vom Potsdamer Platz Richtung Warschauer Brücke ab und ignorierte dabei zwei Haltsignale. Dadurch wurde er auf der Verbindungsweiche vom Zug aus Richtung Bülowstraße gerammt und ein Wagen stürzte in den Hof der Gesellschaft für Markt- & Kühlhallen. Zudem riss die Kupplung zwischen zwei Wagen des Bülowstraßen-Zuges. Insgesamt starben 21 Menschen und über 20 wurden schwer verletzt.
Im Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung vom 26. September 1908 berichtete ein Fahrgast, dass plötzlich ein furchtbarer Krach zu hören war und der Zug abrupt stillstand. Als er aus dem Fenster schaute, sah er unter sich einen Hochbahnwagen, dessen Räder in die Höhe ragten. Unmittelbar darauf brach der Wagen völlig in sich zusammen, wodurch die zahlreichen Insass*innen zerquetscht wurden und herzzerreißende Schreie unter den Trümmern zu hören waren. Er verließ mit den anderen Fahrgästen schnell den Zug, um sich in Sicherheit zu bringen.
Peter Plewka hat auch Ansichtskarten zu diesem Ereignis gesammelt, dessen dramatische Folgen zum Motiv mehrerer Karten wurden. Diese zeigen jeweils verschiedene Perspektiven. Mit unterschiedlichen Mitteln wie Fotografie und Illustration verdeutlichten sie die Drastik des Unfalls.
Es lässt sich die These aufstellen, dass die Ansichtskarten zu dem Hochbahnunglück als Berichterstattung und Informationsquelle verbreitet wurden. Die Hochbahnanlage, die bis dahin als absolut betriebssicher galt, wurde nach den Bahnunglücken von 1908 und 1911 in der Öffentlichkeit diskutiert. In der Folge wurden in den Jahren 1911 und 1912 am Kreuzbahnhof am Gleisdreieck bauliche Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit für Bahnreisende vorgenommen, die am 3. November 1912 fertiggestellt waren.
Die Hochbahn galt Anfang des 20. Jahrhunderts als Beleg des Fortschritts und war Teil der Modernisierung der Stadt, da sie einen schnellen Transport für die wachsende Bevölkerung ermöglichte. Unfälle wie das Hochbahnunglück von 1902 waren wiederum für Modernisierungsskeptiker*innen jener Zeit ein Beleg für Gefahren und Risiken des Großstadtlebens.
Die Ansichtskarte zeigt eine Szene, die die tragischen Folgen der Hochbahnkatastrophe verdeutlicht. Infolge eines besonders heftigen Aufpralls war der vorderste Wagen des angefahrenen Zuges aus dem Gleis gerissen worden und in die Tiefe gestürzt. Der Waggon schlug in dem Hof des Grundstücks Luckenwalder Straße 2 auf.
Das Motiv der Ansichtskarte zeigt die baulichen Schäden und Einsatzkräfte am Ort des Geschehens. Der Text am unteren Bildrand gibt zusätzliche Informationen über ihre Aufgaben. Auf der Ansichtskarte ist eine Leiter der Feuerwehr für ihren Einsatz zu sehen. Zudem wird deutlich, dass der zweite Waggon oben auf dem Gleis abzustürzen drohte. Die Ansichtskarte scheint die Bemühungen von Rettungskräften und die dabei angewandten Techniken in den Mittelpunkt zu rücken.
Die hier nachgezeichnete Szene zeigt das Zugunglück in dramatischer Weise mit den Schäden. Das Bild verweist aber auch auf die zahlreichen Schaulustigen und Helfer*innen, die auch auf fotografischen Ansichtskartenmotiven zu sehen sind. Die Menschenmenge setzt sich zudem aus Feuerwehrleuten, Männern in Hüten und Anzügen sowie Arbeitern zusammen, was auf die Vielfalt der sozialen Schichten und Berufe hinweist. Das Motiv ist realistisch gestaltet und könnte darauf hindeuten, dass der Verlag die Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt der Berliner Bevölkerung hervorheben sowie die Augenzeug*innen dieses Ereignisses in den Mittelpunkt rücken wollte.
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Berliner Neueste Nachrichten. Nr. 172. 22. Jahrgang. Abend-Ausgabe. Montag 14. April 1902. S 2–3.
Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung. Nr. 187. XXXI Jahrgang. Abend-Ausgabe. Montag 14. April 1902. S. 6. (Bericht über einen angetrunkenen Mann in der Katzbachstraße 5, der von der Feuerwehr und seinen Nachbar*innen aus der Wohnung getragen wurde aus den B und C-Texten.)
Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Nr. 188, XXXI Jahrgang, Morgen-Ausgabe, Dienstag 15. April 1902. S. 5.
Volkszeitung, Nr. 172. Abendblatt. 1902. – Berlin 50. Jahrgang, Montag 14. April 1902. S. 1–2.
Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Nr. 492, 37. Jahrgang, Abend-Ausgabe, Sonnabend 26.09.1908, S. 4. (Bericht eines Fahrgastes/Augenzeugen aus dem B-Text)
https://www.ausstellung-postkarte.de/ (abgerufen am 14.07.2024)