Bereits vor der Gründung der Frauenzentren in den 1960er und 1970er Jahren prägten Frauen das soziale und wirtschaftliche Leben in Kreuzberg. Die Zeit der 1920er Jahre ist heutzutage vor allem für das Bild der schillernden „Neuen Frau“ bekannt, dabei bleiben der Alltag und die Lebenswelt der allermeisten Frauen unsichtbar. Diese arbeiteten in Fabriken, betrieben kleine Geschäfte und engagierten sich in sozialen Bewegungen.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts strebten Frauen gleiche Rechte wie Männer an und kämpften dafür, wählen zu gehen und unter besseren Bedingungen zu arbeiten. Doch trotz ihrer zentralen Rolle in der Gesellschaft blieben viele ihrer Geschichten und Orte lange unbekannt. Auch Fotografien und Ansichtskarten aus dieser Zeit geben selten Einblicke in die Lebenswelten von Frauen. Diese Unsichtbarkeit ist ein Ausdruck von mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung sowie von politischen und ökonomischen Ungleichheiten.
Auch in der Sammlung Peter Plewka sind Frauenorte unterrepräsentiert, ihre Lebenswelten erscheinen nur in Ausschnitten. Zu vielen Orten fehlen jegliche Abbildungen, etwa zu Treffpunkten lesbischer Frauen. Die Sammlung bildet somit nicht die Realität ab – viele Aspekte des Lebens und Wirkens von Frauen sind nicht dargestellt.
Im Folgenden wird anhand der Sammlung Peter Plewkas den Spuren von Geschichten von Frauen in Kreuzberg Anfang des 20. Jahrhunderts nachgegangen: Arbeitende Frauen, Treffpunkte der Frauenbewegung bis hin zu Lebensorten und -bedingungen von Frauen geraten so in den Blick.
Berlin bot Anfang des 20. Jahrhunderts eine freizügige queere Szene. Trotz staatlicher Diskriminierung, etwa durch den Paragrafen 175, der sexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe stellte, gab es nicht nur in der gehobenen Gesellschaft, sondern für die gesamte Berliner Bevölkerung Möglichkeiten, sich mit anderen Schwulen, Lesben und trans Personen zu treffen. Für lesbische Frauen gab es zwar keinen einschlägigen Paragrafen, doch sie erfuhren mehrfache Diskriminierung und Ächtung ihrer Sexualität und ihres Geschlechts. Die Zensur in der Weimarer Republik war gering, allerdings wurden mit dem Paragrafen 184 „unzüchtige“ Schriften bekämpft. Dennoch erschienen in Berlin mindestens sechs Lesbenzeitschriften, darunter z.B. die bekannte Zeitschrift „Die Freundin“. Sogenannte Clubs waren Treffpunkte lesbischer Frauen. Hier fanden sie eine Gemeinschaft, die ihnen in der Gesellschaft sonst oft verwehrt blieb, und konnten sich frei entfalten, wie etwa im Damen-Club „Erâto“ in der Kommandantenstr. 72. Einer der größten Clubs war von 1926 bis 1935 das „Violetta“ in der Hasenheide 52–53. Betrieben wurde es von Charlotte „Lotte“ Hahm (1890–1967), einer prominenten Figur der lesbischen Szene, die gemeinsam mit Käthe Fleischmann, geb. Reinhardt, aktivistisch tätig war. Ab 1933 wurden Treffpunkte der homosexuellen Bewegung überwacht oder sogar verboten: 1935 musste das „Violetta“ aufgrund von Denunziation schließen. In der Sammlung Peter Plewka sind Abbildungen der Clubs zu finden, die jedoch nicht als lesbische Orte erkennbar sind. Das Wissen darüber und über ihre soziale Bedeutung für lesbisches Leben verschwand mit dem Tod der Beteiligten zunehmend aus dem kollektiven Gedächtnis.
Lotte Hahm eröffnete 1945 mit Kati Reinhardt am Spittelmarkt in Ost-Berlin erneut ein Lesbenlokal und zog später um ins „Max & Moritz“ in der Oranienstr. 162, das bis in die 1960er ein Treffpunkt der lesbischen Szene blieb. Das „Max & Moritz“ wurde bereits 1902 als Wirtshaus gegründet und hatte bis in die 1930er Jahre eine der besten Lagen am „Boulevard des Ostens“.
Bis 1912 war das Wöchnerinnenheim Am Urban das einzige dieser Art in Berlin. Der Begriff „Wöchnerin“ bezieht sich auf Frauen, die kürzlich entbunden haben und sich im Wochenbett befinden. Gegründet im 18. Jahrhundert waren Wöchnerinnenhäuser spezialisierte Einrichtungen zur Betreuung von Frauen und Neugeborenen während der Geburt und in den ersten Wochen danach; Hebammen wurden an der Berliner Charité ab 1751 ausgebildet.
Hausgeburten waren, auch aus Angst vor hohen Kosten eines Arztes oder Krankenhauses, bis etwa Mitte des 20. Jahrhundert üblich. Im 19. Jahrhundert starb jedoch jede sechste Gebärende wegen mangelnder Hygiene und medizinischer Versorgung im Wochenbett.
Das Wöchnerinnenheim Am Urban in Kreuzberg bot „unbemittelten“ Müttern und ihren Neugeborenen die notwendige Betreuung an, die sie zu Hause nicht hatten. Auf Ansichtskarten der Sammlung Peter Plewka finden sich Bezüge zum Wöchnerinnenheim Am Urban. Während das fotografische Motiv die Belegschaft und das Gebäude in einer geordneten Weise darstellt, vermittelt das gezeichnete Motiv eine idyllische romantisierende Idealisierung von der Geburt.
Frauen galten in Preußen bis 1900 nicht als geschäftsfähig und standen unter der Vormundschaft ihrer Väter oder Ehemänner. Dabei arbeiteten Frauen aus den unteren Schichten schon immer und eine Erwerbstätigkeit bis zur Ehe war üblich. Frauen arbeiteten beispielsweise als Dienstmädchen, Wäscherinnen oder Heimarbeitskräfte. In den Fabriken erhielten sie als „Zuverdienerinnen“ trotz vergleichbarer Arbeit oft nur die Hälfte der Löhne der Männer.
Ab den 1860er Jahren entstanden verschiedene Frauenbewegungen, die sich in Vereinen organisierten, wie etwa der „Verein für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse zur Förderung des Wissens und Pflege der Geselligkeit“, gegründet im heutigen Kreuzberg. Die Vereine kämpften für gleichen Lohn, das Recht auf Selbständigkeit, das Wahlrecht und Bildung.
Um die Jahrhundertwende stieg die Erwerbsquote weiblicher Beschäftigter von 24,6 Prozent (1895) auf 35,3 Prozent (1925). Nach gesetzlicher Regelung im Paragraf 1356 des Bürgerlichen Gesetzbuches durfte eine Ehefrau von 1900 bis 1958 allerdings nur arbeiten, wenn sie auch ihrer Pflicht der Haushaltsführung nachgehen konnte. Dadurch brauchte die Ehefrau die Erlaubnis ihres Mannes, um arbeiten gehen zu dürfen.
Im Ansichtskartenbestand von Peter Plewka sind Frauen im Berufsleben dargestellt: beim Ausschank, als Inhaberinnen auf Ladenschildern, mit ihren Kindern und Ehemännern oder einzeln vor ihren Betrieben.
In der Sammlung Peter Plewka finden sich einige Beispiele für Frauen im Berufsleben Anfang des 20. Jahrhunderts in Kreuzberg. Sie sind mit ihrer Dienstuniform als Angestellte zu erkennen. Bei den Inhaberinnen sind ihre Namen deutlich auf den abgebildeten Ladenschildern angeschrieben. Es gibt auch Familienbetriebe, bei denen die Familie mit Angestellten vor den Geschäften posiert. Aus heutiger Sicht sind das keine ungewöhnlichen Bilder. Für die Zeit um 1900 sind sie angesichts der gesetzlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen von Frauen umso bemerkenswerter, denn sie zeigen, wie sich Frauen trotz allem im Erwerbsleben durchsetzten.
Weiterführende Lektüre:
Andrea Bergler. Von Armenpflegern und Fürsorgeschwestern: kommunale Wohlfahrtspflege und Geschlechterpolitik in Berlin und Charlottenburg 1890 bis 1914. Franz Steiner Verlag, 2011.
Jana Haase (2024). Die Lette-Schwestern. Eine biografische Zeitreise, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/die-lette-schwestern-eine-biografische-zeitreise
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Landeszentrale für politische Bildung Berlin. Die Hälfte Berlins – Ein Blick auf 150 Jahre Frauenbewegung. Open-Air-Ausstellung, März 2022. In: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/34430084/1/-/
Adelheid Popp. Die Arbeiterin im Kampf um’s Dasein. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, I. Band, 1895.
Kena Stüwe. „Ein Merkstein der Berliner Frauenbewegung“ – Die Gründung des „Vereins für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse“. FEShistory. Blogeintrag vom 24.01.2024. In: https://www.fes.de/feshistory/blog/berliner-frauenbewegung
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Max und Moritz Berlin. Offizielle Homepage. Historie. In: https://maxundmoritzberlin.de/1940-bis-2006/
Ingeborg Boxhammer; Christiane Leidinger (2024). Lotte Hahm, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv
URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/lotte-hahm
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Ingeborg Boxhammer; Christiane Leidinger. Die Szenegröße und Aktivistin Lotte Hahm. In: Stella Hindemith, Christiane Leidinger, Heike Radvan, Julia Roßhart (Hg.): Wir* hier! Lesbisch, schwul und trans* zwischen Hiddensee und Ludwigslust – Ein Lesebuch zu Geschichte, Gegenwart und Region. Lola für Demokratie in Mecklenburg-Vorpommern e. V., Berlin 2019. S. 20 UND S. 57–59. In: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/01/Lesebuch_Wir_hier.pdf
Ingeborg Boxhammer; Christiane Leidinger (2021). Offensiv – strategisch – (frauen)emanzipiert: Spuren der Berliner Subkulturaktivistin* Lotte Hahm (1890-1967). GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 13(1), 91-108.
In:https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/72151/ssoar-gender-2021-1-boxhammer_et_al-Offensiv_-_strategisch_-_frauenemanzipiert.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-gender-2021-1-boxhammer_et_al-Offensiv_-_strategisch_-_frauenemanzipiert.pdf
Jens Dobler. Von anderen Ufern: Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain. Gmünder 2003.
Adele Meyer (1994). Lila Nächte. Die Damenklubs in Berlin der 20er Jahre. Zitronenpresse.
Christiane Leidinger. LSBTI-Geschichte entdecken! Leitfaden für Archive und Bibliotheken zur Geschichte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen. Wege zur Identifizierung und Nutzung von relevanten Quellenbeständen Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang der 1970er Jahre. Hg. von der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Berlin 2017, S. 23, Zugriff am 23.11.2020 unter https://www.berlin.de/sen/justva/presse/pressemitteilungen/2017/pressemitteilung.645784.php.
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Quelle: DOI: 10.1055/s-0029-1205275
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https://lexetius.com/BGB/1356#2
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Angelika Schaser. Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933. Herder Verlag, Freiburg 2020.
Ulla Wikandera. Von der Magd zur Angestellten. Macht, Geschlecht und Arbeitsteilung 1789–1950, Frankfurt a. M. 1998.