HANDEL, HANDWERK UND INDUSTRIEN
Kreuzberger Arbeits- und Alltagswelten

Auf dem Gebiet des heutigen Bezirks Kreuzberg siedelten sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr Handwerks-, Dienstleistungs- und Industriebetriebe an. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte Kreuzberg aufgrund der Vielzahl der Betriebe zu den wichtigsten Industriestandorten in Berlin.

Ob Betreiber*innen von Lebensmittelgeschäften oder Glasereien, von Werkstätten, Kohlenhandlungen oder Fabriken, ob Friseure, Transportunternehmen oder Händler*innen: Sie alle ließen sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor oder gelegentlich auch in ihren Betrieben ablichten. Sie nutzten das neue Medium Ansichtskarte als Werbemittel und posierten als Garant*innen für die gute Qualität ihrer Produkte oder Dienstleistungen. Häufig verwendeten sie die Karten auch, um private Nachrichten zu verschicken oder geschäftlich zu kommunizieren.

Dutzende Ansichtskarten von Kreuzberger Läden, Handwerksbetrieben und Industrien sind in der Sammlung Peter Plewka enthalten. Gelegentlich handelte es sich bei den Aufnahmen um Auftragsarbeiten, meist jedoch um beiläufige Aufnahmen von Straßenfotograf*innen, die ohne Vorankündigung mit ihrer Kamera von Haus zu Haus zogen und ihre Dienste anboten. Fernab von großen Ereignissen und touristischen Attraktionen rücken diese Ansichtskarten Arbeits- und Alltagswelten ins Zentrum, die zur Hochphase der Ansichtskarte um 1900 als erinnerungs- und mitteilungswürdig begriffen wurden.

Diese Ansichtskarten geben heute aber auch Einblicke in die spezifische Kombination aus Wohnen und Arbeiten, die das Kreuzberger Stadtbild lange prägte und die wir heute „nutzungsdurchmischte Quartiere“ nennen.

„Das ist unser Laden” – Ansichtskarten und der Stolz auf das eigene Geschäft

In den Erdgeschossen vieler Kreuzberger Mietshäuser waren um 1900 kleine Läden oder Handwerksbetriebe angesiedelt. Abbildungen von Geschäftsinhaber*innen und Beschäftigten vor diesen Läden – manchmal zu zweit, manchmal zu viert oder zu zwölft – gehören zu den wesentlichen Motiven in der Sammlung von Peter Plewka. Oft dienten die Ansichtskarten zur offiziellen Bewerbung des eigenen Geschäfts und seiner Angebote. Häufiger jedoch dürften sie private Zwecke erfüllt haben. Davon zeugen Ansichtskarten, die die Abgebildeten an Freund*innen oder Familienangehörige schickten, oftmals auch mit kurzfristigen Nachrichten. Dabei nahmen sie Bezug auf das Bild und machten die Adressat*innen – mit einem gewissen Stolz – auf das eigene Geschäft aufmerksam.  

„Das ist unsere Wohnung, Mama steht auf dem Balkon” – Das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten

Während in den Erdgeschossen der Kreuzberger Mietshäuser häufig Gewerbe eingemietet waren, wurde in den oberen Etagen gewohnt. Oft ließen sich Geschäftsinhaber*innen und die übrigen Hausbewohner*innen gemeinsam ablichten. Die geringe Qualität, die Perspektive und die Ausschnitte vieler Bilder weisen darauf hin, dass die Fotograf*innen sie schnell und ohne größere Planung aufnahmen. Ein Effekt dessen war jedoch, dass die Ansichtskarten auf diese Weise kostengünstig und für viele Menschen erschwinglich wurden. So dienten sie als Erinnerung und als populäres Medium für private Kommunikation, innerhalb und außerhalb der Stadt.

„Das ist unsere Wohnung. Mama steht auf dem Balkon.“ Wohn- und Geschäftshaus Görlitzer Str. 11 mit handschriftlicher Markierung und Kommentar, o.D., (verschickt am 17.05.1907), SPP / FHXB 1361
„Das ist unsere Wohnung. Mama steht auf dem Balkon.“
Wohn- und Geschäftshaus Görlitzer Str. 11 mit handschriftlicher Markierung und Kommentar, o.D., (verschickt am 17.05.1907), SPP / FHXB 1361

Belegschaften – Mitarbeiter*innen im Zentrum von Industrie und Gewerbe

Mit der fortschreitenden Industrialisierung entstanden in Kreuzberg Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr größere Betriebe. Oft gaben sie zur Selbstdarstellung Fotos und Ansichtskarten in Auftrag, die alle ähnlich aufgebaut waren: Mitarbeiter – und in einigen Fällen auch Mitarbeiterinnen – posieren in Arbeitskleidung vor ihren Arbeitsstätten. Jugendliche sitzen vorn auf dem Boden, die Inhaber heben sich von der übrigen Belegschaft durch ihre Kleidung und ihre Positionierung im Bild ab. Arbeitsprodukte und Werkzeuge verweisen auf das Gewerbe, meist ist mittig ein Schild mit dem Namen des Unternehmens aufgestellt.

Nach außen dienten solche Abbildungen dazu, ein wohlgeordnetes, aufstrebendes und produktives Unternehmen zu inszenieren. Indem die Belegschaften – und nicht etwa die Produktionsstätten und die Maschinen – ins Zentrum des Unternehmens gerückt wurden, hatten sie zudem eine integrative Funktion nach innen. 

Belegschaft Sattlerei, Köpenicker Str. 152, o.D. (verschickt am 11.08.1905), SPP / FHXB 2138
Belegschaft Sattlerei, Köpenicker Str. 152, o.D. (verschickt am 11.08.1905), SPP / FHXB 2138
Kunst- und Bauglaserei „Gustav Schulze & Jos“, Prinzenstr 23-26, o. D., SPP / FHXB 3778
Kunst- und Bauglaserei „Gustav Schulze & Jos“, Prinzenstr 23-26, o. D., SPP / FHXB 3778
Eisengießerei „C. Spatzier”, Muskauer Str. 37, 1925, SPP / FHXB 3384
Autogen Werke für autogene Schweißmethoden, Blücherstr. 22, o.D., SPP / FHXB 0647
Autogen Werke für autogene Schweißmethoden, Blücherstr. 22, o.D., SPP / FHXB 0647
Born Kessel AG Apparatefabrik, Lausitzer Str. 24, o.D., SPP / FHXB 2477
Born Kessel AG Apparatefabrik, Lausitzer Str. 24, o.D., SPP / FHXB 2477
C. Pose, Fabrik für Militärausrüstung, Schlesische Str. 18, 1915, SPP / FHXB 3966

Siemens & Halske – Ein Weltkonzern aus Kreuzberg

Kurz nach der Jahrhundertwende entstand am Askanischen Platz in der Nähe des Anhalter Bahnhofs das erste Verwaltungsgebäude der Firma Siemens & Halske. Zu dieser Zeit war das in einem Kreuzberger Hinterhof gegründete Unternehmen längst zu einem Weltkonzern im Bereich der Elektroindustrie aufgestiegen. Etwa zeitgleich war mit dem Bau der Siemensstadt in Spandau begonnen worden. Dorthin wurden die vorher über das ganze Stadtgebiet verteilten Produktionsstätten verlagert. Ergänzt wurde die Siemensstadt um eine Wohnsiedlung für Arbeiter. 1913/14 zog auch die Hauptverwaltung von Kreuzberg nach Spandau. Nur ein kleines, neu errichtetes Verwaltungsgebäude für den Publikumsverkehr verblieb fortan in Kreuzberg.

In der Sammlung von Peter Plewka ist keine Ansichtskarte der Firma Siemens erhalten, auf der ähnlich wie in vielen anderen Betrieben die Belegschaft ins Zentrum gerückt wird. Erhalten sind vielmehr nur solche Karten, auf denen sich das Unternehmen über seinen Firmengründer, über die technischen Erfindungen oder über seine modernen Verwaltungsgebäude präsentiert.

Auch diese Karten nutzten Beschäftigte gelegentlich, um Bekannte oder Verwandte zu grüßen und sie auf ihre Arbeitsstellen aufmerksam zu machen.

Firmengründer, Stammhaus und das Charlottenburger Werk der Firma „Siemens & Halske“ mit Hinweisen auf bedeutende elektrotechnische Produkte. o.D. (verschickt am 10.04.1903). SPP / FHXB 2888
Firmengründer, Stammhaus und das Charlottenburger Werk der Firma „Siemens & Halske“ mit Hinweisen auf bedeutende elektrotechnische Produkte. o.D. (verschickt am 10.04.1903). SPP / FHXB 2888
„Hier ist mein Platz mittags beim Essen“
Das 1898–1901 von Karl Janisch im Jugendstil entworfene, erste Verwaltungsgebäude der Firma Siemens am Askanischen Platz 3 mit elegantem Casino für die Verwaltungsangestellten. o.D. (verschickt am 04.08.1907), SPP / FHXB 0360
Zentrumsnahes Verwaltungsgebäude der Firma Siemens, Schöneberger Str. 3, nach 1915, SPP / FHXB 4033
Zentrumsnahes Verwaltungsgebäude der Firma Siemens, Schöneberger Str. 3, nach 1915, SPP / FHXB 4033

„In diesem Hause verschwende ich meinen Geist” – Beschäftigte und ihre Einstellung zur Arbeit

Gerade die weniger inszenierten Aufnahmen vor Läden oder Betrieben geben kleine Einblicke in das Verhältnis der Kreuzberger Arbeiter*innen und Angestellten zu ihrer Arbeit. Wenn die Beschäftigten etwa scherzhaft oder lässig-leger vor ihrem Laden posieren, könnte das als eine gewisse Distanz zum Betrieb interpretiert werden; oder als Haltung, durch die sich die Beschäftigten als nicht übertrieben engagiert präsentieren wollen. Eindeutiger wird es in den seltenen Fällen, in denen Beschäftigte auf Ansichtskarten selbst ihre Tätigkeit bewerten.

„von einem gemütlich verlebten Arbeitstag“Firma „Huch&Co”. Lindenstr. 3, o.D. (verschickt am 24.08.1909), SPP / FHXB 2531
„von einem gemütlich verlebten Arbeitstag“
Firma „Huch&Co”. Lindenstr. 3, o.D. (verschickt am 24.08.1909), SPP / FHXB 2531
Konditorei „Max Kuhn“, Prinzenstr. 81, o.D., SPP / FHXB 3794
Konditorei „Max Kuhn“, Prinzenstr. 81, o.D., SPP / FHXB 3794
„In diesem Hause verschwende ich meinen Geist (Das was unter meinem Fenster steht soll ein Auto sein)“ Brandenburgischer Sparkassen- und Giroverband. Brandenburgische Girozentrale, Alte Jakobstr. 130/32, o.D. (verschickt am 16.04.1930), SPP / FHXB 0118
„In diesem Hause verschwende ich meinen Geist (Das was unter meinem Fenster steht soll ein Auto sein)“
Brandenburgischer Sparkassen- und Giroverband. Brandenburgische Girozentrale, Alte Jakobstr. 130/32, o.D. (verschickt am 16.04.1930), SPP / FHXB 0118

Autor*in

Jana König
Sonja Lindhauer